Petra Ihm-Fahle
Gönewein dachte, er sehe nicht recht, als er aus seinem Haus in den Garten trat. Der Morgen lag frühsommerlich vor ihm, die Luft war kühl, die Vögel sangen. Es war die Stunde, die er liebte, in der er allein war und seinen Gedanken nachhängen konnte.
Nebenan wohnte Milde, eine Pest, genau der Typ Nachbar, wegen dem man sein Anwesen verkaufte und wegzog. Und immer hatte man seine Kappe vor Augen, seinen bulligen Körper, eingehüllt in ein Baumwollhemd und eine Arbeitshose mit Latz. Ab sofort würde das nicht mehr der Fall sein.
Die Mauer war so hoch, dass man beim besten Willen nicht darüber schauen konnte. Vor allem: Das Ungetüm stand auf Göneweins Grund und Boden. Milde hatte sie einen kompletten Meter zu weit nach rechts auf seine Terrasse gebaut. Wann hatte dieser Mistkerl das bloß getan? Gönewein hatte nichts gehört, nichts gesehen. Normalerweise bemerkte er nachts jedes Geräusch. Und wer zog schon eine Mauer im Dunkeln hoch? Nun gut, Milde war alles zuzutrauen.
Gönewein stieß gegen die Wand. Vielleicht war der Zement noch nicht durchgehärtet und man konnte sie umstoßen? Doch die Steine saßen fest. Um Himmels Willen, das gab einen Rechtsstreit. Er hasste nichts mehr als so etwas. Voll Schaudern erinnerte er sich an einen Termin, den er einmal bei Gericht gehabt hatte und der kläglich schiefgegangen war. So was brauchte er nie wieder. Aber jetzt? Jetzt musste das doch sein, oder?
Er würde Elena fragen. Normalerweise schlief seine Frau um diese Uhrzeit und durfte nicht geweckt werden. Stand Elena mit dem falschen Fuß zuerst auf, war der ganze Tag gelaufen. In der Regel hütete er sich davor, Geräusche zu machen, denn abgesehen von Milde war nichts schlimmer als seine Frau mit schlechter Laune. Er würde sich erst einmal einen Kaffee kochen und dann weitersehen. Jetzt, um sechs Uhr morgens, konnte er ja schlecht irgendwo anrufen und um Rat bitten.
Während er in der Küche Wasser aufsetzte, hörte er Malte die Treppe herunterkommen. Gott, war das Kind früh aufgewacht. Was er wohl zu der Mauer sagen würde? Gönewein schaute durch die Tür. „Morgen, mein Schatz. Geh mal in den Garten.“
„Im Schlafanzug?“, keifte Malte. Er wurde Elena immer ähnlicher, besonders wenn er nicht ausgeschlafen war. Vielleicht hatte er niedrigen Blutdruck, wie seine Mutter. So etwas konnte Frechheit erklären. Gönewein wandte sich wieder dem Kaffee zu.
„Cool“, hörte er seinen Sohn von draußen rufen. Malte war durch die Terrassentür gelatscht und beäugte die Trennwand. „Papa, hol mir mal den Fußball. Den kann ich prima hier gegen kicken.“
„Aber Malte“, protestierte Gönewein und folgte seinem Sohn in den Garten. „Ich bin nicht dein Diener. Und überhaupt, gegen diese Mauer wird gar nichts gekickt, die wird höchstens abgerissen.“
„Bist du blöde?“, kreischte Malte. „Ich will die behalten!“
„Was geht hier vor sich?“, schaltete sich plötzlich Elena ein. Sie hatte das Schlafzimmerfenster aufgerissen. Ihr Kopf war verstrubbelt, Ringe lagen um ihre Augen. „Quälst du schon wieder das Kind?“
Gönewein wurde ärgerlich. „Ich quäle ihn überhaupt nicht. Aber guck doch mal hier!“
Elena schnaubte. „Umso besser. Müssen wir den Milde nicht mehr sehen.“
„Ja, aber die steht doch zu weit rüber. Das kann der doch nicht bringen, ich zeige ihn an. Das Ding muss weg!“
Malte begann zu heulen und rannte zum Fenster. „Mama, nein! Ich will die behalten. Ich kann den Fußball dagegen kicken. Der fliegt dann nicht mehr in Mildes Garten. Bitte Mama, die Mauer!“
Elenas Gesicht wurde weich. „Mein kleines Herz, natürlich bleibt die. Siehst du, was du angerichtet hast?“, herrschte sie in Göneweins Richtung.
„Aber ...“, versuchte er.
„Aber! Aber! Mach lieber Frühstück. Das Kind hat Hunger“, zankte sie. „Und der Malte holt jetzt fein seinen Fußball und spielt ein bisschen.“
Gönewein wagte einen letzten Versuch. „So was können wir uns doch nicht gefallen lassen“, erklärte er.
„Ta-ta-ta“, machte Elena und legte sich wieder ins Bett. Gönewein seufzte und beobachtete, wie Malte das runde Leder gegen die Wand knallen ließ.
„Ruhe“, brüllte es aus dem Nachbargarten.
„Selber Ruhe!“, schrie Gönewein zurück. „Wir sehen uns vor Gericht, dass das klar ist!“
"Mach lieber Frühstück. Das Kind hat Hunger!“, johlte Milde hinter der Mauer. Gönewein biss sich auf die Lippen. Das würde ein Nachspiel haben, aber ein ordentliches. Oder? Er wusste nicht recht. Man würde weitersehen. Jetzt musste erst mal der Tag beginnen.
Gönewein machte Frühstück.